Wohnungslos in Berlin: Auf dem letzten Weg nicht allein

Heidelore Gliech steht dem wohnungslosen Berliner Christian B. zur Seite. Das Hospizteam der Malteser kooperiert in der Hauptstadt mit drei Wohnungsloseneinrichtungen. Fotos: Caro Hoene/Malteser Berlin
Einmal in der Woche besucht die Ehrenamtliche den Berliner Christian B. in seinem Wohnheim. Die Terrasse vor seinem Zimmer haben sie gemeinsam bepflanzt.
Christian B. bewohnt ein Einzelzimmer in einer Wohnungsloseneinrichtung, die vermutlich seine letzte Wohnstation sein wird - er ist schwerkrank.
„Wir reden über alles, haben keine Geheimnisse voreinander“, sagt Heidelore Gliech.
Auf dem letzten Weg nicht allein: Christian B.

Berlin. In einem kleinen Zimmer in der Hartriegelstraße 24 in Berlin sitzt Christian B. auf seinem Bett. Draußen scheint die Herbstsonne, im Raum ist es dunkel und verraucht. Es ist ein Mittwoch Ende September. Heute ist ein guter Tag für ihn. Denn mittwochs kommt Heidi.   

Heidelore Gliech betritt das Zimmer, öffnet die Terrassentür und rückt sich einen Stuhl ans Bett heran. Auf dem Fußboden steht eine Kaffeemaschine, auf dem Nachttisch liegen eine Tüte Haribo, eine Schachtel Zigaretten und ein Asthmaspray, daneben steht eine Bierflasche. „Wie war Deine Woche?“, fragt Heidelore Gliech.  – „Langweilig, nicht viel passiert“, antwortet er.  

Es ist ein Modellprojekt der Malteser in Berlin: Seit einem Jahr begleiten Ehrenamtliche Malteser Wohnungslose in der Hauptstadt in ihrer letzten Lebensphase. „Den Menschen, die oftmals lange auf der Straße gelebt haben, tut es gut, wenn jemand für sie da ist“, sagt Lydia Lembcke, Koordinatorin im Hospizdienst. Es sei wichtig, sich auch diesen Menschen „in ihrem Leben, aber auch ihrem Sterben anzunehmen“. Eine der 15 Ehrenamtlichen, die diese besonderen Hospiz-Begleitungen macht, ist Heidelore Gliech.

Gut versorgt

Einmal in der Woche besucht sie Christian B. in seinem Wohnheim. Eine eigene Wohnung hat der Berliner schon lange nicht mehr. Seit 16 Jahren ist der 69-Jährige in Sozialeinrichtungen untergebracht, die die Stadt für Leute Menschen ohne Dach über dem Kopf bereithält. Aus seiner alten Unterkunft musste er vor einem Jahr ausziehen, weil es ihm gesundheitlich schlechter ging. Jetzt bewohnt er ein Einzelzimmer im „Haus Hebron“ in Treptow-Köpenick, das vermutlich auch seine letzte Wohnstation sein wird. Er leidet an einer nicht heilbaren, chronischen Lungenkrankheit. In seiner neuen Unterkunft werden Wohnungs- und Obdachlose auch medizinisch und pflegerisch betreut. Der Berliner wird gut versorgt, richtig eingelebt hat er sich trotzdem nicht, ihm fehlt das gemeinsame Essen mit den Kumpels aus dem alten Wohnheim. „Hier kenne ich keinen“, sagt er.

Wenn Heidi kommt, bringt sie ihm ein Stück Kuchen mit. Sie sitzen dann auf der Terrasse vor seinem Zimmer, wo jetzt die Astern im Balkonkasten blühen. Im Frühjahr hat sie mit ihm Narzissen gepflanzt, im Sommer blühten die Fuchsien. Er hat ihr viel von seinem Kleingarten erzählt. Vier Jahreszeiten kennt sie ihn nun schon. „Wir reden über alles, haben keine Geheimnisse voreinander“, sagt sie. Auch über das Sterben haben sie gesprochen. „Christian weiß, dass er schwerkrank ist. Er hat mir gesagt: Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich hab‘ ja ein schönes Leben gehabt.“ Worte, die Heidelore Gliech sehr berührt haben.

Christian B. hatte früher ein anderes Leben. Mit 33 Jahren kam der gelernte Maurer und Schlosser aus Brandenburg nach Berlin-Marzahn, arbeitete hart, bekam zwei Kinder. Mit der Trennung von seiner Frau verlor er den Halt, ein Teufelskreis begann. Christian B. „schaute zu tief ins Glas“, wie er sagt, verlor den Job, konnte die Miete nicht mehr zahlen, lebte eine Zeit in seinem Kleingarten, bis er auch diesen verlor, eine Zeit lebte er auf der Straße, dann in wechselnden Wohneinrichtungen. Zur Ex-Frau und den Kindern hat er keinen Kontakt mehr. Manchmal kommen traurige Erinnerungen hoch, doch es scheint, als habe er inzwischen seinen Frieden gefunden. Nur etwas mehr Gesellschaft hätte er gern. Nach dem Umzug ins Haus Hebron vor einem Jahr fragte ihn die neue Heimleitung, ob er sich nicht über Besuch von Frau Gliech von den Maltesern freuen würde. Er sagte Ja.

Zur Seite stehen

Für Heidelore Gliech ist es das erste Mal, dass sie einem wohnungslosen Menschen zur Seite steht. „Das ist eigentlich nicht viel anders als sonst, außer dass Christian kein soziales Umfeld mehr hat. Das hatte ich so noch nie“, sagt sie. Seit zehn Jahren engagiert sich die 78-Jährige, die jünger wirkt, für die Malteser als Sterbebegleiterin. Früher war sie Klinikärztin. Aus dieser Zeit weiß sie, wie wichtig es ist, dass da noch jemand anderes ist als Pfleger und Krankenschwestern, die zum Schluss für einen da sind. „Das kommt im letzten Lebensabschnitt oft zu kurz.“ 

Christian B. hat sich jetzt eine Wolljacke übergezogen, er und Heidi wollen noch spazieren gehen. Das Laufen fällt ihm auch am Rollator schwer, aber er schafft ein paar Schritte. Heidelore Gliech stützt ihn, ihre Hand streicht über seinen Rücken. Er lächelt. Es ist Mittwoch und Christian B. ist heute nicht allein auf seinem Weg.  

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Wohnungslosigkeit in Berlin 

Bundesweit arbeiten die Malteser daran, das Thema Wohnungslosigkeit stärker in den Fokus zu rücken. Ein neues Modellprojekt der Berliner Malteser zeigt, wie auch der Hospizbereich aktiv werden kann, um Wohnungslosen in ihrer letzten Lebensphase zur Seite zu stehen.

Seit Herbst 2021 kooperiert der Berliner Hospizdienst der Malteser mit zwei Wohnungsloseneinrichtungen, eine dritte soll bald folgen. Der Hospizdienst ist - ähnlich wie bei Pflege- und Senioreneinrichtungen - aktiv auf die Häuser in den Bezirken zugegangen und hat den Dialog mit den Leitungsteams gesucht.