„Der Nächste, bitte!" Reportage aus der Praxis für Nicht-Krankenversicherte

Berlin. Das Wartezimmer ist kurz vor Mittag noch so voll, dass sich eine zehn Meter lange Schlange bis in den Gang reiht. Die Patienten stehen dicht gedrängt. Mütter tragen ihre Kinder auf dem Arm, eine Frau stützt ihren kranken Vater. „Der Nächste bitte!“, ruft die Sprechstundenhilfe. Ein hagerer Mann mit grauem Vollbart und Zopf tritt an die Anmeldung heran. Heinz Thiemann ist 67 Jahre alt - eine Krankenkassenkarte kann er nicht über den Tresen reichen. Der Berliner war vor 25 Jahren das letzte Mal in einer Arztpraxis – weil er sich keine Krankenversicherung leisten kann. 

Im Sprechzimmer begrüßt Annette Weisbach ihren Patienten. Ein schmuckloser Schreibtisch, ein fast leeres Regal und eine Untersuchungsliege, mehr bietet der Raum nicht. „Was fehlt Ihnen?“, fragt die Ärztin. Der Patient klagt über Herz-Kreislauf-Probleme. „Vermutlich hatte ich am Montag einen Schlaganfall.“ Weisbach greift zum Stethoskop und hört ihn gründlich ab, dann legt sie ihm das Bluthochdruckmessgerät an. „Ihr Blutdruck ist so hoch, dass einem der Schädel platzen könnte“, sagt die Ärztin. Sie ordnet ein EKG an.

Aus dem Raster gefallen

Dass die Menschen erst dann zum Arzt gehen, wenn die Krankheit fortgeschritten ist, ist in der Praxis des Malteser Hilfsdienstes in Berlin-Wilmersdorf nichts Ungewöhnliches. „Patienten, die nicht krankenversichert sind, haben längere Leidenswege hinter sich und Krankheitsbilder, die stärker ausgeprägt sind“, sagt Hanno Klemm. Der Mediziner leitet seit vier Jahren die Anlaufstelle für Menschen, die aus dem sicheren Netz des deutschen Gesundheitssystems gefallen sind. Darunter sind überwiegend Migranten, Obdachlose, aber auch Deutsche wie Heinz Thiemann, die kein Geld für eine Krankenversicherung und Medikamente haben. 

Vor 18 Jahren gründeten die Malteser die Arztpraxis, um für Frauen, Männer und Kinder, die am Rande der Gesellschaft leben, eine medizinische Versorgung zu gewährleisten. Mit der Flüchtlingszunahme im Jahr 2015 stieg der Bedarf, weil Menschen ins Land kamen, deren Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist. 

„Es ist die Not der Menschen, die sie zu uns führt.“

Bei dem Ärztehaus, das an das Sankt-Gertrauden-Krankenhaus angegliedert ist, handele es sich um keine „Hochglanz-Praxis“, betont Klemm. Auch sei es nicht Anspruch der Ärzte und freiwilligen Helfer, den Aufenthaltsstatus der Leute zu klären. Es gehe darum, Menschen zu behandeln, die krank sind. „Es ist die Not der Menschen, die sie zu uns führt.“ Die 35 Allgemeinmediziner, Gynäkologen, Zahnärzte und zehn Sprechstundenhilfen, die abwechselnd in der Praxis arbeiten, behandeln die Patienten anonym und unentgeltlich. Für das Ärzte- und Helferteam ist es ein Knochenjob. „Wir stemmen an den drei Tagen das, was andere Praxen an fünf Tagen in der Woche leisten.“ Neue Ärzte und Helfer für das Praxisteam werden dringend gesucht. 

Annette Weisbach steht jetzt im weißen Kittel zwischen all den Menschen im Flur und beruhigt einen Patienten. „Haben Sie einen Termin? Nein? Dann muss ich sie nach Hause schicken. Es tut mir leid, wir schaffen es heute nicht.“ Die Ärztin arbeitet seit vier Jahren zweimal in der Woche ehrenamtlich in der Praxis. Seither habe sich das Patientenaufkommen „kolossal“ verändert. Es gehe zu wie in einer Notfallpraxis. Weisbach arbeitet ab. Karteikarte für Karteikarte, Schicksal für Schicksal, das sich auf ihrem Schreibtisch stapelt. 

So wie das des Krebspatienten, dem sie nicht helfen können wird, weil sein Geld für eine Therapie nicht ausreicht. „Die Malteser übernehmen zwar die ein oder andere Rechnung für Medikamente.“ Auch spendeten die Apotheken Arzneimittel. „Doch so eine Krebsbehandlung, die in die zehntausende Euro geht, kann keiner übernehmen“, so Weisbach. Die Schicksale gingen ihr an die Substanz, sagt die Medizinerin. „Aber in meiner Seele macht es mich glücklich, anderen zu helfen. Ich muss dafür nichts haben.“

„Zu uns kommen die Ärmsten der Armen.“

Am Empfang nimmt Heike Nösser den Mutterschaftspass einer Patientin entgegen und notiert ihren Namen. „Bitte einmal die Jacke ausziehen. Wir messen Blutdruck und Blutzucker.“ Erst kürzlich saß im Behandlungszimmer eine Frau aus Algerien, die im siebten Schwangerschaftsmonat noch keinen Arzt gesehen hatte, erzählt sie. „Zu uns kommen eben die Ärmsten der Armen.“ Nösser, die Ernährungswissenschaft studiert hat, kommt zweimal in der Woche in die Praxis, um zu helfen, weil es sie trotz turbulentem Praxisalltag glücklich macht. „Ich treffe hier auf wahnsinnig dankbare Menschen“, sagt sie.

So wie Heinz Thiemann, der 25 Jahre gewartet hatte, bis er zum Arzt ging.? „Ohne Krankenversicherung fühlte ich mich zum Sterben verurteilt.“ Als 1993 die Aufträge als selbstständiger Messebauer und Elektroingenieur ausblieben, fehlte Thiemann das Geld, um die Beiträge für die Krankenkasse zu zahlen. Er flog aus dem System, suchte Hilfe bei den Behörden, fühlte sich aber nicht ausreichend unterstützt. Dabei hätte er seine Krankheiten – Herz-Kreislauf und Lungenprobleme – längst behandeln müssen. „Ein Teufelskreis“, sagt der Berliner. Von seiner Schwester erfuhr er von der Praxis der Malteser für Menschen ohne Krankenversicherung. Nach dem Arztbesuch weiß er, dass er noch einmal Glück gehabt hat. Keinen Schlaganfall, nur Bluthochdruckprobleme hat die Ärztin diagnostiziert. Dafür bekommt er jetzt Tabletten. „Die Malteser waren meine Rettung“, sagt er. Seinen nächsten Termin hat er bereits mit der Praxis vereinbart.

Text: Diana Bade/ Fotos: Julian Stähle


Ärzte mit Herz gesucht für die Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM)

Deutschlandweit leben rund 80.000 Menschen ohne Krankenversicherung. 

Vor 18 Jahren gründete der Malteser Hilfsdienst in Berlin eine Arztpraxis, um für Frauen, Männer und Kinder ohne Krankenversicherung eine medizinische Versorgung zu gewährleisten. Jetziger Schirmherr ist der Berliner Erzbischof Dr. Heiner Koch. Insgesamt 2740 Patienten hat die Berliner Einrichtung im Jahr 2018 behandelt, davon 438 Kinder und 228 Schwangere. Ein Großteil der Patienten stammt aus Asien, Afrika, Osteuropa und Lateinamerika. 113 Patienten kamen aus Deutschland.

Die 35 Ärzte arbeiten ehrenamtlich in der Praxis. Neue Ärzte und Helfer für das Praxisteam werden dringend gesucht. Wer die Arbeit ehrenamtlich unterstützen möchte, kann sich telefonisch in der Praxis melden unter 030 - 82 72 21 02 oder per Mail unter: hanno.klemm@malteser.org

Die Praxis ist auf Spenden angewiesen, auch um die Medikamente für die bedürftigen Patienten zu finanzieren. Bei Fragen kontaktieren Sie bitte Katrin Göhler, Leiterin Spenden und Nachlässe beim Malteser Hilfsdienst Berlin, per E-Mail unter Katrin.goehler@malteser.org oder telefonisch unter  030-348 003 670. Spendenkonto: Malteser Hilfsdienst e.V. ?|? Pax-Bank ?|? IBAN: DE03 370 60 120 120 120 4018 ?|? BIC / S.W.I.F.T: GENODED1PA7 Stichwort: MMM